Ein Nebenzimmer im ersten Stock des Vereinsheims von Fortuna Biesdorf. Aus dem angrenzenden Restaurant dringt gedämpft der Lärm des Spiels Hoffenheim – Hertha. An einem schweren Holztisch sitzen am Freitagabend Markus Wandgraf und Florian Becker, der Eine mit zerfurchtem, der Andere mit zerknirschtem Gesichtsausdruck. Becker hatte das Ü60-Spiel von Fortuna Biesdorf gegen den Berliner SC gepfiffen, Wandgraf war sein Schiedsrichterbeobachter und hatte die ganze Partie auf Video aufgenommen. Jetzt sitzen sie vor Wandgrafs Laptop und werten aus.
„Mein lieber
Florian“, sagt Wandgraf, „ich muss Dir leider mitteilen, dass Du heute eine
ganz schlechte Leistung geboten hast.“ Becker hört bedröppelt zu. Sein
Beobachter spult bis zur Schlussphase des Spiels vor. Auf dem Bildschirm rollt
sich ein BSC-Spieler nach einem Zweikampf dreimal um die eigene Achse, hält
sich das Gesicht und stößt einen Schmerzensschrei aus.
„Hier“, sagt
Wandgraf, „hast du Deinen schwersten Fehler gemacht. Da schau, die Nummer 2,
wie der Mann leidet. Da hättest du sofort Erste-Hilfe-Maßnahmen ergreifen
müssen. Die lernt man doch beim Schiedsrichter-Lehrgang.
Herz-Rhythmus-Massagen, fester Druck auf den Brustkörper, Mund-zu-Mund-Beatmung
notfalls. Du hättest sofort jemand ins Vereinsheim schicken müssen, damit er
den Defibrillator holt, zur Sicherheit, vielleicht drohte ja Herzstillstand.
Aber weil du nicht reagiert hast, habe ich schon mal das Unfallkrankenhaus
angerufen. Bin einfach auf Nummer sicher gegangen, besser, wenn der Hubschrauber
schon mal da steht. Aber die haben gesagt, Christoph 31 sei bei einem Einsatz.“
Beckers
Schultern sacken zusammen, eigentlich ist er trotz seines jungen Alters ein
guter Schiedsrichter, aber diese Kritik setzt ihm zu.
„Wie ist denn
das Spiel Deiner Aufzeichnung nach ausgegangen?“, fragt Wandgraf.
Becker zieht
einen Zettel hervor. „8:1 für Biesdorf.“
„Okay“, sagt
Wandgraf. „Das kann so nicht bleiben, das wäre total unsportlich.“
Er nimmt einen
tiefen Schluck aus seinem Bierglas und wischt sich dann den Mund ab. „Bei dem
üblen Zweikampf hast du nicht mal Foul für den BSC gepfiffen. Als Ersatz
annulieren wir ein Tor von Biesdorf. Eine Frage der Gerechtigkeit. Jetzt
steht’s also nur noch 7:1.“
Wandgraf spult
das Video zurück, sie betrachten nun das Spiel von der ersten Sekunde an. Sie
sehen, wie Manni in der fünften Minute kurz vor der Mittellinie abzieht und
genau unter die Latte trifft – Tor des Jahrzehnts – besser als Alex Alves
seinerzeit (https://www.youtube.com/watch?v=lMEo6VR8HzU).
Drei Minuten
später fällt der Ausgleich durch einen Schuss aus spitzem Winkel, aber Wandgraf
fällt etwas auf. Er spult das Video zurück, studiert nochmal genau die Nummer
des Torschützen und verkündet dann: „Dieser Typ hat mir vor dem Spiel den
Parkplatz weggenommen. Das war ’ne echte Sauerei. Hier, kurz vor dem Tor hat er
doch klar die Hand am Ball.“
„Ich seh’
nichts“, sagt Becker. „Der Ball ist doch bloß am Fuß.“
„Egal“,
antwortet Wandgraf, „der Treffer ist irregulär. Hier im Keller von Biesdorf
entschieden. Punkt. Nur noch 6:1 für Biesdorf.“
„Wir sind doch
gar nicht in einem Keller“, wagt Becker einzuwerfen.
Aber da ist er
bei Wandgraf an den Richtigen gekommen. Der ist sowieso sauer über Beckers
Leistung, jetzt traut der sich sogar noch, ihn zu kritisieren. Der Beobachter
ist nun entschlossen, noch intensiver nach Fehlern von Becker zu suchen.
Zwei Minuten
später hat er schon den ersten. Biersdorf hatte erneut getroffen, wieder aus
spitzem Winkel. Becker deutete sofort auf den Anstoßpunkt.
„Ha“, sagt
Wandgraf und spult die Szene um einige Sekunden zurück. „Hier, der Biesdorfer
Spieler sagt etwas zu seinem Gegenspieler, zu dem da, zu dem sie Esti sagen.“
„Ich hör’
nichts“, sagte Becker.
Der erneute
Widerspruch reizt Wandgraf noch mehr. „Klar, sagt der etwas“, sagt er. „,Du
läufst so langsam wie meine alte Oma’, sagt er. Ich kann’s doch an seinen
Lippen ablesen.“
„Aber der Typ
ist doch nur von hinten zu sehen“, sagte Becker nun leicht empört.
Wandgraf drückt
sein Ohr an den Bildschirm, hört sekundenlang zu, dann erklärt er
triumphierend. „Ich hab’s gehört. Klang zumindest so. Klarer Fall,
unsportliches Verhalten. Tor ist nicht gültig und wird annulliert. Wie steht es
jetzt?“
„5:1 für
Biesdorf“, antwortet Becker.
Fünf Minuten
später schießt Biesdorf wieder ein Tor. Wandgraf ist wild entschlossen, Beckers
Fehler genau zu sezieren. „Na, ob das Tor auch regulär gefallen ist“, sagt er
schon mal und lässt die Szene nochmal laufen. „Wusste ich’s doch“, sagt er, „natürlich
nicht gültig. Die Nummer 20 hat’s geschossen. Den Typen kenne ich doch. Der hat
mich vor 17 Jahren mal auf dem Platz beleidigt, als ich gepfiffen hatte. Da,
sieht man doch, der hat seinen Gegenspieler, diesen Roland, vor dem Tor brutal
weggedrückt.“
„Äh, das war
ein Distanzschuss, der Typ stand allein“, sagte Becker etwas verstört.
Wandgraf reagiert
nicht auf seinen Einwand. „Tor wird annulliert. 4:1 für Biesdorf.“
Im Video drei
Minuten später das nächste Tor von Biesdorf. Im ungewöhnlich hochgelegenen
Keller des Biesdorfer Vereinsheims wird der Treffer annulliert, weil der
Torschütze vor dem Tor seinen Gegenspieler Hartmut mit dem bösen Blick
eingeschüchtert hatte. Unsportliches Verhalten, 3:1 für Biesdorf.
Zweite
Halbzeit, auf dem Platz trifft Biesdorf erneut, im Keller senkt Wandgraf den
Daumen. Der Biesdorfer Torschütze hatte Wandgraf vor 23 Jahren keine Zigarette
ausgegeben. Der Schiedsrichter-Beobachter vergisst nie. Natürlich hatte deshalb
der Torschütze vor dem Treffer ein Foul begangen. Tor annulliert, 2:1 für
Biesdorf.
Nächste Szene,
nächstes Tor für Biesdorf. Der Torschütze jubelt, er dreht sein Gesicht zur
Kamera, wieder zuckt Wandgraf zusammen. Mit den Typen ist er vor 40 Jahren zur
Schule gegangen. Der hatte ihn nie abschreiben lassen, deshalb ist Wandgraf mal
sitzen geblieben. Jetzt kommt die späte Rache.
„Klares
Abseits“, trompetet Wandgraf.
„Abseits“,
fragt Becker verblüfft, „bei einem Kleinfeldspiel?“
Wandgraf
stutzt. „Okay, kein abseits“, sagt er. „Aber der Typ hat unsportlich gejubelt.
Treffer annulliert, 1:1 für Biesdorf.“
Das Video läuft
weiter, das Spiel auch, Biesdorf trifft zum achten Mal. Ein Tor in letzter
Sekunde. „Der Torhüter des BSC, dieser Hans“, sagt Wandgraf, „der war durch das
brutale Foul an der Nummer 2 bestimmt völlig durcheinander bei diesem Tor. Der
hatte durch die Attacke ganz sicher ein Trauma erlitten, der war gar nicht mehr
spielfähig. Aber ohne Torhüter darf man nicht spielen. Klarer Fall, Tor wird
annulliert.“
Wandgraf
schiebt seinen Laptop zu Becker. „So Florian, jetzt korrigierst du das Ergebnis
auf fussball.de. Der BSC hat 1:0 gewonnen. Ich muss mal schnell was erledigen.“
Er öffnet die
Tür und geht ins Restaurant, wo # 2 das Hertha-Spiel verfolgt. „Herr K. (Name
der Redaktion bekannt)“, sagt Wandgraf, „ich bin der Schiedsrichter-Beobachter.
Wie geht es Ihnen gesundheitlich?“
„Geht wieder“,
antwortet K..
„Freut mich zu
hören“, sagt Wandgraf. „Sie sind doch auch Mannschaftsvertreter. Ich möchte
Ihnen gratulieren. Es hat da beim Ergebnis eine kleine Korrektur ergeben.“
# 4 (F.B.)