Donnerstag, 16 Uhr, eine ruhige Seitenstraße in Tempelhof.
Andi H. betritt einen vornehmen Altbau mit viel Stuck und trottet mit müden,
fast schleppenden Schritten in den zweiten Stock – die Psychotherapeutin Dr.
Carola W. hat hier ihre Praxis. Andi klingelt, eine Assistentin öffnet die Tür.
„Herr H.?“, fragt sie, „Sie können gleich durchgehen.“
Carola W. sitzt in einem bequemen Ledersessel, Andi lässt
sich ihr gegenüber nieder. „Wie kann ich Ihnen helfen? Was bedrückt sie?“,
fragt sie freundlich.
Andis Augen füllen sich mit Wasser. „Ich bin ratlos, absolut
ratlos, einfach nur ratlos“, murmelt er. Tränen laufen über seine Wangen.
Carola W. reicht ihm ein Tempo-Taschentuch. Andi versucht zu erklären, aber
mehr als Wortfetzen bringt er nicht raus. „Pokalspiel..., Friedenau...,
Fehlpass..., so schlecht, so schlecht..., ich so schlecht..., alle so
schlecht...“, 0:3..., Geschenke..., so viele Geschenke...“, stammelt er. Dann
sackt er zusammen und beginnt hemmungslos zu schluchzen.
Irgendwann gibt er sich einen Ruck und richtet sich wieder
auf. Carola W. hat gerade ihre siebte Packung Tempo-Taschentücher geöffnet.
„Also“, sagt Andi, „wir hatten gestern Abend ein Pokalspiel gegen Friedenau.
Ich spiele Fußball in der Ü 60-II des Berliner SC. Friedenau spielt eine Klasse
höher als wir. Trotzdem haben wir gut begonnen. Friedenau hatte erstmal keine
echte Torchance, wir hatten sogar ein leichtes Übergewicht. Und das will was
heißen, weil wir eigentlich defensiv ausgerichtet sind. Aber dann...“ Andi
stockt, wieder laufen Tränen über seine Wangen, „aber dann habe ich vor dem
eigenen Tor einen katastrophalen Fehlpass gespielt, direkt in die Füße eines
Gegners. Der hat dann gleich geschossen. Tor! Dann, kurz darauf, Fernschuss von
Friedenau. Ich habe den Ball noch leicht abgefälscht. Der Ball geht direkt
unter die Latte ins Tor. 0:2 nach ein paar Minuten, zum Kotzen. Und wir hatten
keinen Plan, wie wir Friedenau knacken wollen. Die haben früh gepresst, damit
hatten wir Probleme. In der Pause haben wir gesagt, dass wir nun auch früh
drauf gehen, haben wir auch gemacht. Da ist Friedenau ins Schwimmen gekommen,
wir hatten sogar das Spiel langsam übernommen. Aber dann ist ein Friedenauer
frei zum Schuss gekommen, weil ihn keiner angegriffen hat. Und, peng, das
nächste Tor, super gemacht, mit dem Außenrist, unhaltbar. So war das Ding
natürlich durch. Wir hatten wieder mal verloren, weil wir zu blöd waren. Das
passiert ständig, und ich weiß nicht, wie wir das ändern sollen. Das ist ja
mein Problem, deshalb bin ich nur noch ratlos.“ Die letzten Sätze kommen eher
murmelnd. Mit einigem Willen hält er weitere Tränen zurück.
Carola W. hat die ganze Zeit verständnisvoll zugehört. Mit
warmer Stimme sagt sie dann: „Es ist gut, dass Sie die Kollegin, die Sie zuerst
angesprochen haben, an mich verwiesen hat. Ich kenne so ein Problem, das ist
meine Spezialität. Ich habe selber die A-Lizenz, ich weiß viel über Taktik. Bei
mir war schon Pep Guardiola, als er mit den Bayern mal eine Schwächephase
hatte. Top Secret natürlich. Alle Gespräche fanden erst ab 20 Uhr statt.“
Sie holt aus einem Schrank ein recht großes Schachbrett und
verteilt darauf Figuren. „Ich habe auch eine Taktiktafel“, sagt sie
entschuldigend, „aber zu mir kommen ja nicht bloß Fußballspieler. Bei anderen
Klienten stört sie, deshalb bringe ich sie zu ausgewählten Terminen mit. Aber
weil Sie so kurzfristig auftauchen, habe ich sie heute nicht dabei. Es geht
aber auch mit Schachfiguren.“ Sie reicht Andi Schreibblock und Kugelschreiber.
„Besser, Sie schreiben mit“, sagt sie. Eine Papierkugel symbolisiert den Ball.
Andi rückt näher, das Schachbrett steht auf einem Coachtisch.
„Okay“, sagt Carola W., „ich zeige Ihnen jetzt verschiedene Spielvarianten, mit
denen Sie ihr Spiel erheblich verbessern können und auch mit Pressing gut
klarkommen. Aber natürlich müssen Sie das einstudieren. Wir beginnen mit der
flach abfallenden diametralen Sechs, schon mal davon gehört?“
Andi schüttelt den Kopf. „Ich kenne nur Diamanten“ sagt er.
„Hab‘ ich mir gedacht“, antwortet Carola W. Dann stellt sie
mehrere weiße und schwarze Bauern in der Mitte des Bretts. „An dieser
taktischen Formation sind die Innenverteidiger und der Sechser beteiligt. So,
schwarz ist der BSC, weiß der Gegner. Sie haben ja Probleme mit gegnerischem
Pressing. Der wichtigste Grund für das Abkippen in die letzte Linie ist das
Herstellen von Überzahl gegen das gegnerische Pressing. Gegen
Zwei-Stürmer-Pressingformationen bietet es sich an, ein Drei-gegen-Zwei
herzustellen, sofern man nicht ter Stegen oder Neuer im Tor hat.“ Sie lächelt,
ein kleiner Scherz lockert die Stimmung. „Wir haben Peter im Tor“, erwidert
Andi. „Okay“, fährt Carola W. fort, „durch eine zusätzliche Anspielstation wird
der Ballvortrag erleichtert. Seitliches Herauskippen fokussiert den Aufbau über
den Halbraum oder einen bestimmten starken Fuß des abkippenden Spielers,
während zentrales Abkippen den Aufbau über das Zentrum hervorhebt.“
Sie schiebt die drei schwarzen Bauern so, dass sie eine
Überzahl gegen die weißen bilden. Auf f6 erobert der BSC souverän den Ball.
Andi notiert jedes Wort. „Wir könnten Esti auf der Sechs
einstellen“, sagt er grübelnd, „und als Innenverteidiger bieten sich Lutz und
Dicki an.“ Er schiebt nun selber die schwarzen Figuren, Carola W. übernimmt
Weiß. Auf c3 verliert der BSC einen Zweikampf, Weiß trifft souverän ins Tor.
„Tja“, sagt die Psychotherapeutin, „das müssen Sie noch trainieren.“
Dann kommt sie zum nächsten Thema – Hinterlaufen des Gegners:
„Der ballführende Außenspieler dribbelt immer nach innen, um Raum für den
Hinterlaufenden zu schaffen“, sagt Carola W.. „Der Pass zum Hinterlaufenden
wird gespielt, noch bevor er die Höhe des Außenspielers erreicht. Der
Hinterlaufende macht sich mit einem Signal, ein einfaches Wort zum Beispiel,
bemerkbar. Es wird immer mit höchstem Tempo hinterlaufen. Es ist wichtig, dass
der Sechser dabei nicht zu weit vom Außenverteidiger entfernt steht, sonst kann
der Gegner den Ball nach einem Vorbeilegen wieder kontrollieren.“
Sie positioniert nun die weißen und schwarzen Läufer auf dem
Brett und stellt auch noch Türme auf. Dann zieht sie die Figuren, so dass Weiß
ein wunderschönes Tor durch Hinterlaufen erzielt. „Das ist eine Aufgabe für
Stephan B.“, sagt Andi begeistert. Er stellt die schwarzen Figuren neu,
beobachtet genau das Stellungsspiel von Carola W. Verteidigern und zieht dann
blitzschnell seine Türme. Das Codewort hat fürs Hinterlaufen er bereits
festgelegt. Auf der A-Linie brüllt Stephan „thermodynamisches Equilibrium“
und zeigt dann einen atemberaubenden Sprint. Mit einem harten Schuss donnert er
den Ball ins rechte Toreck. „Wow“, entfährt es Carola W.. Andi nickt stolz. Sie
geben sich die Five.
Zwei Stunden dauert die Sitzung, Andi notiert alles über
Doppelsechs, Verschieben auf der Mittelachse, Positionsspiel der
Außenverteidiger, Nachrücken der falschen Neun. Sein Block ist voll. „Das
müssen Sie aber alles intensiv trainieren“, sagt die Psychotherapeutin.
„Zumindest an der Taktiktafel, wenn sie nur einmal pro Woche Training haben.“
Andi bedankt sich ausführlich und verlässt um 18 Uhr die
Praxis. Zu Hause setzt er sich sofort an den Computer und bietet Hertha BSC in
einer Mail an, dass er gerne Sandro Schwarz in taktischen Fragen beraten könne.
Hertha bedankt sich, muss das Angebot aber leider aus finanziellen Gründen
ablehnen. In der angespannten Situation sei leider kein Geld für eine weitere
Fachkraft vorhanden.
Andi kauft sich eine große Taktiktafel und bunte, runde
Magnete. Dem Team der Ü 60-II teilt er mit, dass er beim nächsten Training
erstmal eine Taktikschulung machen wird.
Mittwoch, 19.45 Uhr, Kabine 107. Andi hat seine Taktiktafel
aufgebaut und wartet, bis alle Spieler erscheinen. „Jungs“, sagt er, als ihn
jeder interessiert ansieht. „Ich habe die Lösung für unsere Probleme. Wir
beginnen mit der flach abfallenden diametralen Sechs.“
Frank Ba.