19.11.22

Ü60-II – Pokalfight in Friedenau

Donnerstag, 16 Uhr, eine ruhige Seitenstraße in Tempelhof. Andi H. betritt einen vornehmen Altbau mit viel Stuck und trottet mit müden, fast schleppenden Schritten in den zweiten Stock – die Psychotherapeutin Dr. Carola W. hat hier ihre Praxis. Andi klingelt, eine Assistentin öffnet die Tür. „Herr H.?“, fragt sie, „Sie können gleich durchgehen.“

Carola W. sitzt in einem bequemen Ledersessel, Andi lässt sich ihr gegenüber nieder. „Wie kann ich Ihnen helfen? Was bedrückt sie?“, fragt sie freundlich.

Andis Augen füllen sich mit Wasser. „Ich bin ratlos, absolut ratlos, einfach nur ratlos“, murmelt er. Tränen laufen über seine Wangen. Carola W. reicht ihm ein Tempo-Taschentuch. Andi versucht zu erklären, aber mehr als Wortfetzen bringt er nicht raus. „Pokalspiel..., Friedenau..., Fehlpass..., so schlecht, so schlecht..., ich so schlecht..., alle so schlecht...“, 0:3..., Geschenke..., so viele Geschenke...“, stammelt er. Dann sackt er zusammen und beginnt hemmungslos zu schluchzen.

Irgendwann gibt er sich einen Ruck und richtet sich wieder auf. Carola W. hat gerade ihre siebte Packung Tempo-Taschentücher geöffnet. „Also“, sagt Andi, „wir hatten gestern Abend ein Pokalspiel gegen Friedenau. Ich spiele Fußball in der Ü 60-II des Berliner SC. Friedenau spielt eine Klasse höher als wir. Trotzdem haben wir gut begonnen. Friedenau hatte erstmal keine echte Torchance, wir hatten sogar ein leichtes Übergewicht. Und das will was heißen, weil wir eigentlich defensiv ausgerichtet sind. Aber dann...“ Andi stockt, wieder laufen Tränen über seine Wangen, „aber dann habe ich vor dem eigenen Tor einen katastrophalen Fehlpass gespielt, direkt in die Füße eines Gegners. Der hat dann gleich geschossen. Tor! Dann, kurz darauf, Fernschuss von Friedenau. Ich habe den Ball noch leicht abgefälscht. Der Ball geht direkt unter die Latte ins Tor. 0:2 nach ein paar Minuten, zum Kotzen. Und wir hatten keinen Plan, wie wir Friedenau knacken wollen. Die haben früh gepresst, damit hatten wir Probleme. In der Pause haben wir gesagt, dass wir nun auch früh drauf gehen, haben wir auch gemacht. Da ist Friedenau ins Schwimmen gekommen, wir hatten sogar das Spiel langsam übernommen. Aber dann ist ein Friedenauer frei zum Schuss gekommen, weil ihn keiner angegriffen hat. Und, peng, das nächste Tor, super gemacht, mit dem Außenrist, unhaltbar. So war das Ding natürlich durch. Wir hatten wieder mal verloren, weil wir zu blöd waren. Das passiert ständig, und ich weiß nicht, wie wir das ändern sollen. Das ist ja mein Problem, deshalb bin ich nur noch ratlos.“ Die letzten Sätze kommen eher murmelnd. Mit einigem Willen hält er weitere Tränen zurück.

Carola W. hat die ganze Zeit verständnisvoll zugehört. Mit warmer Stimme sagt sie dann: „Es ist gut, dass Sie die Kollegin, die Sie zuerst angesprochen haben, an mich verwiesen hat. Ich kenne so ein Problem, das ist meine Spezialität. Ich habe selber die A-Lizenz, ich weiß viel über Taktik. Bei mir war schon Pep Guardiola, als er mit den Bayern mal eine Schwächephase hatte. Top Secret natürlich. Alle Gespräche fanden erst ab 20 Uhr statt.“

Sie holt aus einem Schrank ein recht großes Schachbrett und verteilt darauf Figuren. „Ich habe auch eine Taktiktafel“, sagt sie entschuldigend, „aber zu mir kommen ja nicht bloß Fußballspieler. Bei anderen Klienten stört sie, deshalb bringe ich sie zu ausgewählten Terminen mit. Aber weil Sie so kurzfristig auftauchen, habe ich sie heute nicht dabei. Es geht aber auch mit Schachfiguren.“ Sie reicht Andi Schreibblock und Kugelschreiber. „Besser, Sie schreiben mit“, sagt sie. Eine Papierkugel symbolisiert den Ball.

Andi rückt näher, das Schachbrett steht auf einem Coachtisch. „Okay“, sagt Carola W., „ich zeige Ihnen jetzt verschiedene Spielvarianten, mit denen Sie ihr Spiel erheblich verbessern können und auch mit Pressing gut klarkommen. Aber natürlich müssen Sie das einstudieren. Wir beginnen mit der flach abfallenden diametralen Sechs, schon mal davon gehört?“

Andi schüttelt den Kopf. „Ich kenne nur Diamanten“ sagt er.

„Hab‘ ich mir gedacht“, antwortet Carola W. Dann stellt sie mehrere weiße und schwarze Bauern in der Mitte des Bretts. „An dieser taktischen Formation sind die Innenverteidiger und der Sechser beteiligt. So, schwarz ist der BSC, weiß der Gegner. Sie haben ja Probleme mit gegnerischem Pressing. Der wichtigste Grund für das Abkippen in die letzte Linie ist das Herstellen von Überzahl gegen das gegnerische Pressing. Gegen Zwei-Stürmer-Pressingformationen bietet es sich an, ein Drei-gegen-Zwei herzustellen, sofern man nicht ter Stegen oder Neuer im Tor hat.“ Sie lächelt, ein kleiner Scherz lockert die Stimmung. „Wir haben Peter im Tor“, erwidert Andi. „Okay“, fährt Carola W. fort, „durch eine zusätzliche Anspielstation wird der Ballvortrag erleichtert. Seitliches Herauskippen fokussiert den Aufbau über den Halbraum oder einen bestimmten starken Fuß des abkippenden Spielers, während zentrales Abkippen den Aufbau über das Zentrum hervorhebt.“

Sie schiebt die drei schwarzen Bauern so, dass sie eine Überzahl gegen die weißen bilden. Auf f6 erobert der BSC souverän den Ball.

Andi notiert jedes Wort. „Wir könnten Esti auf der Sechs einstellen“, sagt er grübelnd, „und als Innenverteidiger bieten sich Lutz und Dicki an.“ Er schiebt nun selber die schwarzen Figuren, Carola W. übernimmt Weiß. Auf c3 verliert der BSC einen Zweikampf, Weiß trifft souverän ins Tor. „Tja“, sagt die Psychotherapeutin, „das müssen Sie noch trainieren.“

Dann kommt sie zum nächsten Thema – Hinterlaufen des Gegners: „Der ballführende Außenspieler dribbelt immer nach innen, um Raum für den Hinterlaufenden zu schaffen“, sagt Carola W.. „Der Pass zum Hinterlaufenden wird gespielt, noch bevor er die Höhe des Außenspielers erreicht. Der Hinterlaufende macht sich mit einem Signal, ein einfaches Wort zum Beispiel, bemerkbar. Es wird immer mit höchstem Tempo hinterlaufen. Es ist wichtig, dass der Sechser dabei nicht zu weit vom Außenverteidiger entfernt steht, sonst kann der Gegner den Ball nach einem Vorbeilegen wieder kontrollieren.“

Sie positioniert nun die weißen und schwarzen Läufer auf dem Brett und stellt auch noch Türme auf. Dann zieht sie die Figuren, so dass Weiß ein wunderschönes Tor durch Hinterlaufen erzielt. „Das ist eine Aufgabe für Stephan B.“, sagt Andi begeistert. Er stellt die schwarzen Figuren neu, beobachtet genau das Stellungsspiel von Carola W. Verteidigern und zieht dann blitzschnell seine Türme. Das Codewort hat fürs Hinterlaufen er bereits festgelegt. Auf der A-Linie brüllt Stephan „thermodynamisches  Equilibrium“ und zeigt dann einen atemberaubenden Sprint. Mit einem harten Schuss donnert er den Ball ins rechte Toreck. „Wow“, entfährt es Carola W.. Andi nickt stolz. Sie geben sich die Five.

Zwei Stunden dauert die Sitzung, Andi notiert alles über Doppelsechs, Verschieben auf der Mittelachse, Positionsspiel der Außenverteidiger, Nachrücken der falschen Neun. Sein Block ist voll. „Das müssen Sie aber alles intensiv trainieren“, sagt die Psychotherapeutin. „Zumindest an der Taktiktafel, wenn sie nur einmal pro Woche Training haben.“

Andi bedankt sich ausführlich und verlässt um 18 Uhr die Praxis. Zu Hause setzt er sich sofort an den Computer und bietet Hertha BSC in einer Mail an, dass er gerne Sandro Schwarz in taktischen Fragen beraten könne. Hertha bedankt sich, muss das Angebot aber leider aus finanziellen Gründen ablehnen. In der angespannten Situation sei leider kein Geld für eine weitere Fachkraft vorhanden.

Andi kauft sich eine große Taktiktafel und bunte, runde Magnete. Dem Team der Ü 60-II teilt er mit, dass er beim nächsten Training erstmal eine Taktikschulung machen wird.

Mittwoch, 19.45 Uhr, Kabine 107. Andi hat seine Taktiktafel aufgebaut und wartet, bis alle Spieler erscheinen. „Jungs“, sagt er, als ihn jeder interessiert ansieht. „Ich habe die Lösung für unsere Probleme. Wir beginnen mit der flach abfallenden diametralen Sechs.“

Frank Ba.

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