2.3.15

Ein kalter Abend im Prenzlauer Berg

Ein kalter Abend im Prenzlauer Berg, an der Tür zur Kneipe „Zu Papa Heinz“ hängt das Schild „Heute geschlossene Gesellschaft!“. An diesem Abend ist das Vereinsheim von Rotation für einen besonderen Anlass reserviert. Das ehrwürdige Vereinsgericht tagt. Willi, der Wirt, hat einen provisorischen Gerichtssaal aufgebaut, am Kopfende steht quer ein Tisch. Hier sitzen die Richter. Links und rechts an der Wand stehen lange Tische. Der Raum ist rauchgeschwängert, alle Zuschauerplätze sind gefüllt, ausnahmslos mit Vereinsmitgliedern. Willi zapft ein Bier nach dem anderen. Rechts hocken sieben Männer im fortgeschrittenen Alter, ihre Mienen sind teilweise betreten, teilweise aber auch angriffslustig. Das sind die Angeklagten. Jeder kann trinken, was er will, außer den Angeklagten. Die beiden Hauptangeklagten müssen Zitronensaft trinken, der Rest erhält Leitungswasser.
Hinter der Theke durchschnitt Willi das Stimmengewirr. „Bitte erheben Sie sich. Das Gericht.“ Gelächter antwortete ihm. Trotzdem standen alle mehr oder weniger schnell auf. Drei Männer schritten aus einem Nebenraum zum Richtertisch. Um ihren Hals lag der Vereinsschal, auf dem Kopf trugen sie schwarze, eimergroße Zylinder. Das sollte die Würde des Gerichts dokumentieren.
Nur Olaf Bodenkind, ein Mann in grauem Jackett, war sitzengeblieben. „Erheben Sie sich“, donnerte der Vorsitzende Richter durch den Saal.
„Du weißt doch, dass ich Rhema habe, Mensch“, entgegnete Bodenkind empört.
„Das ist kein Grund. Ich verhänge hiermit eine Ordnungsstrafe. Der Mann erhält bei der nächsten Bestellung nur ein Mineralwasser.“
Bodenkind erhob sich schwerfällig und schob sich fluchend zum Ausgang.
Der Vorsitzende Richter fixierte kurz die Zuhörer und wandte sich dann nach rechts. „Herr Staatsanwalt, verlesen Sie die Anklageschrift. Komm, Schorsch, leg los.“
Staatsanwalt Georg Bauermann räusperte sich und verkündete dann gewichtig: „Die Angeklagten Peter, Julius, Erwin, Thomas, Rüdiger….
„Ich heiße Thomas Hermann Alexander, da leg ich Wert drauf“, unterbrach einer der Angeklagten beleidigt.
„Gut, dann halt Thomas Hermann Alexander, Rüdiger, Anton wird vereinsschädigendes Verhalten in einem besonders schweren Fall vorgeworfen. Sie haben nicht verhindert, dass die Ü 50 des Berliner SC  zwei Tore geschossen hat, obwohl es für Rotation die klare Vorgabe von null Gegentoren gab. Wir sind Tabellenführer und müssen den Zweiten auf Abstand halten. Gut möglich, dass es am Ende aufs Torverhältnis ankommt. Alle sieben Angeklagten standen zum Zeitpunkt der Gegentore auf dem Feld.“
Der Vorsitzende Richter blickte nach links. „Herr Verteidiger, Sie haben das Wort.“
Verteidiger Jürgen Hoffmann erhob sich. „Herr Vorsitzender, ich protestiere. Ich werde hier nur als Pflichtverteidiger bezahlt und bekomme deshalb nur meine ersten beiden Getränke umsonst. Ich bin aber Wahlverteidiger. Und ich habe Durst.“
Der Vorsitzende Richter winkte ab. „Mach mal halb lang, Jockel, Du bist nur deshalb Verteidiger, weil Deine Tochter Jura studiert. Mit zwei Freibier kommst du gut weg.“
Hoffmann lehnte sich zurück und verschränkte beleidigt die Arme. Er schwieg.
Der Vorsitzende Richter starrte ihn an. „Das Gericht wertet die Aussage als Plädoyer für die Unschuld der Angeklagten. Wir treten in die Beweisaufnahme ein. Bitte, Herr Staatsanwalt, ihr erster Zeuge.
„Ich rufe den Zeugen Elmar Kneist.“
Ein Mann mit schütterer Frisur und Designer-Brille trat nach vorne.
Der Vorsitzende Richter beäugte ihn prüfend.
„Fürs Protokoll. Wie heißen Sie?“
„Wladimir Putin, Du Esel. Was soll denn der Scheiß.“
Der Vorsitzende blickte zu einem Mann, der am Richtertisch Notizen machte. „Fürs Protokoll, wir hören ohne Formalien die Aussage. Herr Zeuge, was haben Sie am fraglichen Freitagabend gesehen?“
„Ich bin draußen gestanden, konnte ja nicht spielen, weil ich verletzt bin. Weißt ja. Also, in der vierten Minute dachte ich, mich trifft der Schlag. Kann auch die fünfte gewesen sein. Also, da gab es Eckball für den Berliner SC, so von der rechten Seite. Den hat einer getreten, den kenne ich nicht. Und dann segelt der Ball wirklich super in den Strafraum, da steht dann einer vom BSC, Schäfer heißt der, Hartmut Schäfer, habe mir den Namen von Schiedsrichter geben lassen. Der musste nur noch einen Schritt zurückgehen und konnte dann ungehindert ins rechte Eck einköpfen. Ungehindert, sag ich. Das war wie aus dem Lehrbuch. Da stand es 1:0 für den Berliner SC. Die lagen vorne, die BSC-Leute, das muss man sich mal vorstellen.“
Ein Raunen ging durch den Saal. Das war erkennbar eine Neuigkeit für viele Mitglieder. Die meisten kannten nur das Endergebnis. Drei der Angeklagten erbleichten. Auch der Vorsitzende atmete durch.
„Sind die Schuldigen an diesem Gegentor im Raum?“
Kneist stapfte zur Anklagebank und deutete auf Peter, Erwin und Thomas Hermann Alexander. „Verräter“, zischte Erwin zurück.
„In welcher Weise haben sie sich schuldig gemacht?“, fragte der Vorsitzende.
„Na, der Erwin war Torwart, der hätte den Ball abfangen müssen. Der Thomas stand …"
"… Thomas Hermann Alexander, Du Hornochse. Ich heiße Thomas Hermann Alexander. Na warte, wenn Du mal wieder kein Geld für ein Bier hast. Kannste lange warten, dass ich Dir was leihe.“
„Ruhe“, donnerte der Vorsitzende. „Das ist Zeugenbeeinflussung. Ich verhänge eine Ordnungsstrafe. Dem Angeklagten Thomas Hermann Alexander wird für die Dauer der Verhandlung das Wasser gestrichen. Wachtmeister, walten Sie ihres Amtes.“ Willi, der Wirt, schlurfte zur Anklagebank.
„Gut, Herr Zeuge, und weiter.“
„Na, und der Thomas Hermann Alexander“ – Kneist spuckte die Namen aus als spräche er von einer tödlichen Krankheit – war der Gegenspieler vom Schäfer. Der hätte ran müssen. Und der Peter ist der größte von uns. Der hätte den Ball weg köpfen können.“
Der Vorsitzende Richter wandte sich an den Verteidiger. „Ihre Fragen an den Zeugen.“
Verteidiger Hoffmann erhob sich und stemmte die Fäuste auf den Tisch. „Von wegen verletzt. Hör doch aus mit dem Käse, Elmar. Du hast doch abgesagt, weil Du am Abend vorher mit mir bis um zwei gesoffen hast. Und am Freitag hast Du angerufen und gesagt: Du kannst nicht spielen. Außerdem bist du kurzsichtig.“
Aus dem Hintergrund ertönte eine empörte Frauenstimme. „Und mir hat er gesagt, er hätte Überstunden machen müssen.“
Hoffmann fixiert den Zeugen, der erheblich an Körperspannung verloren hatte. „Ich bezweifle die Glaubwürdigkeit dieses Zeugen. Ich behaupte, er sagt die Unwahrheit. Er konnte gar nicht erkennen, wer im Strafraum gestanden hatte.“
Der Vorsitzende Richter blickte streng. „Der Einwand hat Substanz, Elmar. Ich habe ja mitgesoffen.“
Hoffmann nickte zufrieden.
Der Vorsitzende wandte sich an den Staatsanwalt, der an Gesichtsfarbe verloren hatte. „Ihre weiteren Zeugen.“
Drei Männer traten auf, sie bestätigten die Version des Zeugen Kneist.
Der Staatsanwalt erhob sich. „Und kommen wir zum nächsten Gegentor. Da waren alle Angeklagten beteiligt. Ich rufe den Zeugen Walter Maiwald.“
Ein drahtiger Mann mit Schnauzbart trat vor.
„Mein Name ist Walter Maiwald, ich bin 52 Jahre alt, ich bin mit den hier angeklagten Personen weder verwandt noch verschwägert, möchte aber aus Gründen der Ehrlichkeit mitteilen, dass ich einem der Angeklagten mal mein Trikot ausgeliehen habe. Ein Abhängigkeitsverhältnis ist dadurch aber meines Erachtens nicht entstanden.“
Der Vorsitzende Richter hatte sich die Hände an die Ohren gehalten und blickte ihn verärgert an. „Mensch Walter, was redest Du denn für einen Stuss. Interessiert doch keinen. Komm zur Sache.“
„Lass mich doch, ich war noch nie Zeuge vor Gericht. Ist doch eine spannende Sache. Hab‘ mich extra vorbereitet. Wo kann ich eigentlich das Zeugengeld abholen?“
Der Staatsanwalt rieb sich genervt die Stirn. „Also Herr Zeuge, was haben Sie gesehen?“
„Das zweite Tor fiel wieder nach einem Eckball. Ich stand draußen, ich konnte das gut sehen. Einer vom BSC, Krappweis, Stefan Krappweis, heißt der, der hat den Ball sofort angenommen. Der Ball kam flach zu ihm, der nimmt den Ball an, dreht sich und peng. Schuss, Tor, aus die Maus. Da haben alle sieben auf dem Feld gepennt.“
„Herr Verteidiger, Ihre Fragen.“
„Ich habe gerade mein Mandat niedergelegt. Aus Empörung. Ich habe mein drittes Bier bestellt, und Willi sagt, dass ich es bezahlen muss. Das mache ich nicht mit. So, jetzt könnt ihr schauen, wo ihr bleibt.“
Nach einer kurzen Beratung beschloss die Kammer, dass eine Verteidigung nicht mehr nötig sei. Die Beweislast sei ohnehin erdrückend.
„Herr Staatsanwalt, ihr Plädoyer.“
„Hohes Gericht, die Schuld der Angeklagten ist erwiesen, der Schaden, den sie der Ü 50 zugefügt haben, ist enorm. Ich fordere für die drei Hauptangeklagten Peter, Erwin und Thomas Hermann Alexander je drei Wochen Küchendienst bei Willi. Sie sollen Kartoffeln schälen, Geschirrr spülen, Teller einräumen. Außerdem eine viermonatige Spielsperre. Für die übrigen Angeklagten je zwei Wochen Küchendienst, außerdem soll jeder am nächsten Sonntag in den Frühgottesdienst. Ein Monat Spielsperre genügt in diesen Fällen.“
Herr Verteidiger, Ihr Plädoyer.“
Hoffmann schwieg. Der Staatsanwalt erhob sich. „Mensch, Jürgen, stell Dich nicht so blöd an. Sag halt was. WILLIIIIII!, bring dem mal ein Bier, geht auf meine Rechnung.“
Hoffmann nickte zufrieden. „Geht doch. Also, ich möchte das Gericht daran erinnern, dass wir 8:2 gewonnen haben. Ich plädiere deshalb auf zwei Wochen Küchendienst für die Hauptangeklagten, und eine Woche Küchendienst für die anderen Angeklagten. Keine Spielsperre.“
Das Gericht zog sich zurück. Nach zehn Minuten tauchten die Richter wieder auf, und der Vorsitzende verkündete: Im Namen des Vereins ergeht folgendes Urteil: Die Angeklagten Peter, Erwin und Thomas Hermann Alexander erhalten wegen vereinsschädigendem Verhalten in einem besonders schweren Fall vier Monate Spielsperre. Außerdem müssen sie vier Wochen lang Willis Keller aufräumen und den Mitgliedern des Gerichts jeden Abend je ein Bier zapfen. Das Bier geht natürlich auf ihre Kosten. Die übrigen Angeklagten erhalten je einen Monat Spielsperre und müssen den Torschützen des BSC, Hartmut Schäfer und Stefan Krappweis, innerhalb von sieben Tagen schriftlich mitteilen, dass sie ihnen bei deren nächsten beiden Saisonspielen die Taschen in die Kabine tragen. Die Verhandlung ist geschlossen.“


Für Frank

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